Das Reserva Prinzip

Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen, um die Qualität eines Weins von außen zu bestimmen. Rund um Bordeaux steht der Name des Châteaus für Stil und Qualität. Wer zum Beispiel Lafite trinkt, erwartet etwas Besonderes und alle Weinberge, die Lafite innerhalb der Appellation Pauillac dazukauft, wandern automatisch in den Grand Vin, der die höchste Güteklasse 1er Grand Cru hat. Man geht davon aus, dass das Weingut wenig Interesse daran hat, minderwertige Weine hinzuzufügen. Im Burgund ist die Klassifikation erst einmal nicht an den Erzeuger geknüpft, sondern an das Terroir, also den Weinberg. Reben aus dem Chambertin-Weinberg spricht man per se die Fähigkeit zu, große Weine zu ergeben, und wenn ein mediokrer Winzer die verdirbt, nun ja, Pech gehabt. Man sollte ja seine Pappenheimer und Rousseaus kennen. Beiden Systemen ist eine gewisse Abhängigkeit zwischen Terroir und Erzeuger, zwischen dem Boden, auf dem die Reben wachsen, und demjenigen, der den Wein herstellt, also dem Winzer, immanent. So weit, so logisch. Was passiert aber, wenn man diese Schichten weitgehend voneinander trennt und noch eine weitere Schicht hinzufügt? Und warum macht man das überhaupt?

In der historischen Rioja gab es viele kleine Landwirte, die Weine herstellten, aber nicht selbst vermarkteten, denn die großen Märkte waren weit weg. Also gab es Händler, die wiederum Fuhrleute beschäftigten, um die Weine in die Häfen von Bilbao oder Santander zu bringen. Man kaufte, wenn man was benötigte, verschnitt die verschiedenen Partien, bis daraus ein passabler Wein entstand und handelte diesen aus Lagerhäusern in Logroño, Haro, Vittoria oder Bilbao. Was genau in den Fässern war, wusste nur der Händler. So ging das jahrhundertelang und auch als im 17. und 18. Jahrhundert die Adligen, die Hidalgos, in der Region im großen Stil investierten, änderte sich daran nicht viel. Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts kämpften die Handelshäuser noch darum, dass auf Fässern mit der Aufschrift Rioja bis zu 20 Prozent Weine aus anderen Regionen enthalten sein durften. Erst seit 1992, als kein Fassweinhandel mehr über die Grenzen Riojas hinaus erlaubt wurde, stammt der Wein aus der Rioja auch zu 100 Prozent aus der Region selbst.

Das Rioja-System hatte aber noch andere Auswirkungen. Der Begriff Terroir, die genau Herkunft des Weins spielte hier, ähnlich wie der Jahrgang, keine Rolle. Wer seine Weine in einer so großen Region aus jedem Weinberg zusammenkaufen darf und muss, ist wenig interessiert daran, Haro oder Lanciego auf sein Etikett zu schreiben, wenn er denn garantieren muss, dass der Wein auch genau aus diesem Ort kommt. Besonders, wenn er dort gar keine Weinberge besitzt. Denn wenn ein „Rioja de Lanciego - Village“ plötzlich auch auf den Märkten einen besonderen Erfolg und damit höhere Preise erzielt, werden die Weinbauern relativ bald auch mehr für ihre Weine verlangen oder sie sogar selbst vermarkten.

Hinzu kam: Die Weinbauern hatten in aller Regel weder das Kapital noch die Möglichkeit, ihre Weine länger zu lagern. Etwas, was sich wegen der chronisch unzuverlässigen Erntemengen und Qualitäten in der Rioja aber anbot. Wer Wein im Keller hatte, konnte ihn verkaufen, wenn der Markt danach verlangte. Wer keinen Keller besaß, musste den Wein sofort verkaufen, egal was der Markt sagte. Immer mehr Händler oder große Weingüter, die oft eine Mischung zwischen Weinerzeugern und Händlern waren, gingen dazu über, große Fasskeller anzuschaffen und in ihnen Weine zu lagern. Die besten Erzeuger verwendeten dafür auch die besseren Weine, mit einem größeren Lagerpotenzial. Aber das war (und ist) natürlich nicht zwingend so. Bessere Weine, lange Lagerung, das musste dem Kunden natürlich schmackhaft gemacht werden. Also fing man an, das auch auf die Flaschen zu schreiben. Reserva war der Begriff dafür. Ausgesuchte Weine, lange Lagerung, bessere Reife - das war das verführerische Versprechen, höhere Preise und bessere Verzinsung der (nicht unverdiente) Nebeneffekt. Gran Reserva und Gran Reserva Especial oder Seleccionada folgten und irgendjemand kam dann schließlich auf die tolle Idee, die „besten“ Weine in ein goldenes Drahtgeflecht zu hüllen. Bling Bling à la Rioja.

Ein System, von dem unter dem Strich alle mehr oder minder profitierten. Die Weinbauern brauchten in ihrem Keller nur das Fass für den Eigenbedarf zu lagern, die großen Weingüter und Händler konnten riesige Mengen von edlen (und teilweise auch wirklich guten) Reservas zu vernünftigen Preisen herstellen und der Konsument konnte sich an Marken und ein Geschmacksbild gewöhnen, ohne zu fürchten, dass „sein Rioja“, auch der Beste, jemals ausverkauft sein würde.

Aber das System hat auch einige Schattenseiten. Die großen Handelshäuser bestimmen die Preise auf dem Weinmarkt, auch gegenüber den Produzenten. Und da es egal ist, wo sie kaufen, ist das Druckpotential groß und die Preise niedrig. Viele kleine Weinbauern haben in den letzten Jahrzehnten aufgegeben und ihr Land günstig an die großen Firmen verkauft. Das hat natürlich auch Einfluss auf die Weindörfer, denn ein Großteil dieser Menschen geht weg.

Der Preisdruck sorgt dafür, dass billig produziert werden muss. Also hohe Erträge und extensiver Einsatz von Herbiziden, Pestiziden und Kunstdünger. In den 90er Jahren, so schätzt man, ist in der Rioja pro Hektar drei bis fünf Mal so viel davon verwendet worden wie in anderen Regionen Spaniens.

Und die Konsumenten? Ein großer Teil der Weine der Rioja befindet sich im unteren Preissegment. Der Durchschnittspreis Ex-Cellar beträgt circa 3,50 Euro und ist damit immer noch erschreckende 45 Prozent höher als bei anderen spanischen D.O. Weinen. Und für das wenige Geld gibt es meist gute bis sehr gute Weine.

Aber das Reserva-System bringt auch einen gewissen Stil mit sich, der Jahrzehntelang die Rioja dominiert hat. Kraftvolle konzentrierte Weine mit hoher Oxidation, einer gewissen süßlichen Anmutung und starken, vor allem durch Vanille geprägten Holznoten. Wenig individuell und mehr im Keller entstanden als im Weinberg. Man könnte es auch so sagen: Händler schauen darauf, was sie glauben, was die meisten Kunden wollen, Winzer, was Ihnen der Weinberg gibt.

Und jetzt? In der Rioja hat es durch die Jahrhunderte immer ein Auf und Ab von Mangel und Überproduktion gegeben. Eine Art Rioja-Zyklus. Wahrscheinlich sind wir jetzt eher wieder bei der Überproduktion. In den großen Kellereien lagern teilweise bis zu zehn Jahrgänge und angesichts der Preiserhöhungen der letzten fünf Jahre verkauft sich das alles nicht mehr von allein. Vom Reserva-System mag man sich nicht recht trennen, hat aber auch festgestellt, dass der Kunde heute Weine mit einer spezifischen Herkunft, mit einer Geschichte und großer Individualität bevorzugt. Die großen Kellereien versuchen, dem gerecht zu werden, indem sie plötzlich auch Weine „aus Einzellagen“ anbieten. Manchmal müssen wir schmunzeln, wenn uns ein Weingut seinen neusten Premium-Weinberg vorstellt, der sehr dekorativ und touristenwirksam direkt vor den Türen der Kellerei liegt. Sehr praktisch, dass ausgerechnet dort das beste Terroir ist. Glück gehabt. Oder wie Telmo Rodriguez es einmal ausdrückte: „Was sagt es über eine Region aus, wenn ihr berühmtester Weinberg 1914 auf einem ehemaligen Rübenacker, wo vorher nie eine Rebe gestanden hat, am Schwemmland des Ebro auf über 100 Hektar angelegt worden ist? Man kann da vielleicht guten Wein machen, aber ist das auch Terroir-Wein?“

Aber es gibt zum Glück auch das andere Rioja, das eine Verbindung zurück zu den Wurzeln initiiert und dabei auf Individualität und die Besonderheiten der Region achtet. Da sind Arturo und Kike de Miquel Blanco, kurz Artuke. Beide haben nie eine Weinbauschule besucht, nie ein Praktikum bei Top-Burgunderwinzern gemacht und doch war ihnen, als sie das Weingut vom Vater übernommen haben, klar: Wir wollen andere Weine machen. Wir definieren uns nicht über die Lagerzeit, sondern über das Terroir - wie im Burgund. Erstaunlich schnell sind La Condenada und Co zu den Top-Weinen der Region geworden. Und da ist unsere Entdeckung des Jahres: Alegre & Valgañon. Oscar und Eva bereiten Weine am äußersten Ende der Appellation. Von einzelnen Lagen gibt es manchmal nur 900 Flaschen, aber sie sind von einzigartiger Finesse. Erstaunlich sind die Weißweine, denen man in der Region lange kaum Beachtung geschenkt hat. Alegre & Valgañon ist ein Projekt, das für uns jetzt schon zu den besten Weingütern der Region gehört. Nur wenige große trauen sich den neuen Weg mitzugehen. Telmo Rodriguez und Pablo Eguzkiza waren die Vorreiter dafür. Auf Lanzaga, ihrem Weingut in Lanciego gibt es seit jeher keine Reservas, dafür seit einigen Jahren Einzellagen. Mit Las Beatas, einer uralten Terrassenlage, haben sie den Musigny des Rioja geschaffen oder besser: wiederbelebt. Auf Remelluri, Telmos Familienweingut, verabschiedet man sich auch bald von den Reservas und mit seinem Lindes de Remelluri, das er mit kleinen Weinbauern der Umgebung initiiert hat, setzt er Maßstäbe nicht nur für die Qualität der Weine und ihrer Herkunft, sondern auch für eine verantwortungsvolle Zusammenarbeit mit den Traubenerzeugern. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte über die „andere Rioja“ …