
Thibaud Brocard oder das Privileg der Jugend - „Der ist beim D-Day dabei gewesen“, meinte Thibaud und gab auf dem holprigen, leicht bergan führenden Schotterweg Gas. „Von da oben sieht man das ganze Tal der Ource.“ Wir hielten uns fest und ruckelten so im legendären Willys MB den Hang hinauf. „Den hat mein Großvater den amerikanischen Truppen abgekauft, als die abzogen“, lacht Thibaud, „der Jeep war dabei im Juni 44 in der Normandie. Nur einen neuen Motor haben wir irgendwann einbauen müssen.“ Da sitzen wir also mit einem gerade 21-jährigen Jungwinzer in einem über 60 Jahre alten Jeep, der dabei war, als Frankreich befreit wurde, und gleich, vom Plaine de Celles, werden wir nicht nur die Weinberge der südlichen Champagne sehen, sondern auch fast bis Verdun rüberschauen können, wo vor 100 Jahren der Grande Guerre, wie ihn die Franzosen bis heute nennen, seinen Kulminationspunkt fand.
„Ein guter Deutscher mag keinen Franzen leiden“, hatte Goethe im Faust einem nationalgesinnten Studenten in den Mund gelegt. „Doch ihre Weine trinkt er gern“, ging es weiter. Und so hielten es die Leute beiderseitig der Grenze lange, bis de Gaulle und Adenauer endlich Freundschaft schlossen. „Sagenhafter Blick, hier stelle ich mich selbst, wenn ich viel im Weinberg zu tun habe, gerne mal ein paar Minuten hin“, und Thibaud zeigt auf seine Weinberge und erklärt uns die Orte des Ource-Tales, an dessen Hängen sich die Weinberge wie ein schmales Band nach Osten ziehen. Celles, Landreville, Loches, dann werden die Weinreben spärlicher und stehen nur noch hier und dort vereinzelt unterhalb des Bois des Bons Enfants. Eine wunderschöne Gegend, im Haupt-Tal fließt fast wie von einem Postkartenfotografen erfunden die Seine und die Hügel sind mit Weinbergen, Äckern, kleinen Wäldchen und verstreuten Dörfern gesprenkelt. Die Brocards bereiten seit den Dreißigerjahren hier schon eigenen Champagner. Auch wenn es oft einfacher gewesen wäre, nur die Trauben anzubauen und zu verkaufen, so blieben Thibauds Vater Pierre und der Großvater Henri immer dabei, ganze Winzer zu sein. Erstaunlich, dass bei so viel Beharrungsvermögen Pierre das Weingut 2012 an seinen gerade mal 20 Jahre alten Sohn übergeben hat. Er wird uns später freundlich lächelnd begrüßen, aber statt sich in die Führung und Verkostung einzumischen, verschwindet er lieber irgendwo auf dem Hof und schraubt an einem anderen alten Wagen herum. Ein Renault oder Citroën, der wunderbar nach Wellblech und Film Noir aussieht, dass man sich nicht wundern würde, wenn Lino Ventura gleich mit ihm vom Hof führe.
„Wir haben hier viel Pinot Noir und etwas Chardonnay“, erklärt Thibaud, „und da wir so weit südlich von Reims liegen, haben unsere Champagner deutlich mehr Kraft. Das schätzen die großen Häuser und eigentlich würden sie uns gerne alles abkaufen, aber hier hat es immer Leute gegeben, die die Mehrarbeit und das Risiko, alles selber zu machen, gerne in Kauf genommen haben.“ Lange war die Champagne dabei ein Mikrokosmos, der sich nur um sich selber drehte. Dass man hier wahrnimmt, wie woanders auf der Welt Wein gemacht wird, ist relativ neu. Man lernte auf dem eigenen Betrieb oder beim Nachbarn und machte nachher alles so wie alle zuvor, nur einen neuen Trecker hat man vielleicht mal angeschafft. Wahrscheinlich waren auch deshalb die großen Häuser lange Zeit so überlegen. Thibaud hat auch im eigenen Betrieb gelernt, nebenbei aber auch eine Weinbauschule besucht und dann ist er erst einmal ein wenig in der Welt herumgefahren. In Neuseeland hat er einige Monate Wein gemacht und eigentlich wäre er gerne noch zu anderen Weingütern gegangen, aber irgendwie zog es ihn dann doch wieder zurück. Nicht dass der Vater es sich noch anders überlegte und weitermachte. Thibaud wollte ran. „Eigentlich ist Champagner machen gar nicht so schwer“, ein Satz, den wir noch ein paar Mal hören werden, „aber“ und dieses Aber ist bei fast jedem Winzer anders, „aber, man muss vorher wissen, was man will. Es dauert vier, fünf, bei den Top-Jahrgangs-Champagnern auch mal acht bis zehn Jahre, bis aus den Trauben fertiger Champagner geworden ist, da ist nicht viel Platz für Improvisation und Spontaneität. Für neue Dinge braucht man Geduld, da ist die Champagne erfreulich konservativ.“ Momentan bietet er gerade die Jahrgangs-Champagner von 2004 an, das ist immerhin auch schon neun Jahre her und Thibaud war mal gerade 12 Jahre alt, als die Trauben dafür geerntet wurden. Aber die großartige Qualität der Weine zeigt, auf welch hohem Niveau die Familie schon seit Langem arbeitet. Thibaud benutzt immer noch die uralte Presse aus den Anfangstagen seines Vaters mit, ein seltsam anmutendes Ungetüm. „Damit bekomme ich den Stil, den ich mir für unseren Champagner vorstelle, am besten hin“, aber vieles muss im Keller auch neuer Technik weichen. Und als er eine ältere Flasche aufzieht, deren Korken nur noch müde und faulig aus dem Flaschenhals tropft und deren Inhalt entsprechend schmeckt, sagt er ganz nebenbei den bemerkenswerten Satz: „Wenn es Schraubverschlüsse für Champagner gäbe, würde ich die sofort nehmen.“ Wir auch, aber so weit sind wir sicherlich noch nicht. Aber wir sind gespannt, wann das sein wird und wie er in den nächsten Jahren Tradition und Moderne langsam zusammenführt. Wahrscheinlich ähnlich lässig wie er einen 69 Jahre alten Jeep durch den Weinberg steuert.
PS: Als wir einem bekannten Wein-Journalisten von unseren Entdeckungen berichten und dabei auf ein vielversprechendes junges Talent hinweisen, sagt er nur verschwörerisch „Thibaud“. Schön, dass es auch anderen auffällt, dass es in der Champagne mehr gibt als die Protzbauten.
Steckbrief Champagne Pierre Brocard
- Inhaber: Familie Brocard, Thibaud Brocard
- Rebsorten: 75% Pinot Noir, 25% Chardonnay
- Produktion: 120.000 Flaschen
- Stilistik: Filigrane, nicht so säurebetonte Chardonnays, sehr kraftvolle, intensive Pinot Noirs
- Besonderheit: gereifte rebsortenreine Jahrgangs - Champagner sehr günstig
- Blanc de Noirs: reinsortiger Pinot Noir, enorme Kraft, langer Abgang, universeller Essensbegleiter
- Vintage Blanc de noirs: 3 Jahre Hefelager, nussig, speckig, rauchige Anklänge, ein Charakterkopf, passt zu Epoisses und würzigen Hartkäse
- Vintage Chardonnay: 3 Jahre Hefelager, florale Noten, nussig, komplex, angenehme reife, passt hervorragend zu Krustentieren